
Ein Fundstück aus dem Dachstock von 1943 erzählt von einer sehr mutigen Reise
Ein Umzug wie der unsrige ist mit dem Abarbeiten von Checklisten, dem Packen von Kisten und mit Koordination verbunden, aber manchmal bringt er auch ganz andere Dinge zutage. Dinge, die lange verborgen blieben. Als wir im Zuge unseres bevorstehenden Umzugs in den ECOPARK TIVOLI den Dachstock unseres alten Standorts am Sihlquai ausräumten, stiessen wir auf ein vergilbtes Dossier, mit Bleistift beschriftet: «Bericht Studienreise 1943».
Zuerst dachten wir, es handle sich um interne Notizen, doch beim genaueren Hinschauen dämmerte uns: Was wir da in den Händen hielten, war viel, viel spannender! Es war ein historisches Zeitdokument, nämlich ein Reisebericht der Städtischen Volksküche Zürich, der Vorgängerin von menuandmore.
Vom 4. bis 11. Januar 1943 – es herrschte also noch über zwei Jahre darüber hinaus Krieg – machten sich mehrere Mitglieder der damaligen Küchenleitung auf eine Reise nach Kopenhagen und Berlin. Ziel war, Einblick in die dortige Organisation von Grossküchen, Verpflegungssystemen, Personalführung und städtischer Fürsorge zu erhalten. Die Delegation flog zuerst nach Berlin und reiste von dort weiter nach Kopenhagen.
Dass eine Delegation der Städtischen Volksküche mitten im Zweiten Weltkrieg nach Berlin reiste, ins Machtzentrum des nationalsozialistischen Regimes, zu einer der schlimmsten Diktaturen der Menschheit, lässt sich aus heutiger Sicht schwer einordnen. Was wie ein nüchterner Reisebericht beginnt, lässt einen mit tieferem Eintauchen in die Lektüre nicht mehr los.
Berlin: Zwischen Bombenalarm und Bürokratie
Bereits die Einreise ins offizielle Zentrum des Dritten Reiches war ein Spiessrutenlauf: In einem Berichtsteil, der heute fast absurd wirkt, schildern die Autoren, wie sie Berliner Beamte mit Zigarren zu besänftigen versuchten, um an die nötigen Reise- und Aufenthaltsgenehmigungen zu kommen.
Hier geht’s zum streng vertraulichen Bericht von allerlei «Erlauschtem und Erlebtem»
Auf die Einreise folgte ein eng getaktetes Programm mit Besuchen in zentralen Küchen, Grossbetrieben und Versorgungseinrichtungen. Überall war spürbar: Das tägliche Leben in Berlin war geprägt von Bürokratie, zentraler Lenkung und Mangelwirtschaft. Die Besucher erhielten Einblick in Lebensmittelkarten und Ausgabestellen. Ein Luftalarm in der Nacht wird kurz erwähnt, war aber offenbar dermassen Teil des Alltags, dass kein Berliner und keine Berlinerin mehr gross Aufhebens darum machte.
Die Delegation besichtigte in Berlin einige Betriebe, jedoch mass man dem Beschreiben der aussergewöhnlichen Gegebenheiten, die zu jener Zeit herrschten, wesentlich mehr Beachtung bei: «Die Einblicke in Grossküchen wie Siemens oder Aschinger offenbarten zwar eine funktionierende Infrastruktur, aber auch einen harten Ton im Umgang mit Mitarbeitenden: Die Führung ist streng, der Ton laut. Die Arbeiterinnen scheinen gleichgültig.»
Äusserst spannend hingegen sind die Berichte über den «Katastrophenzug» – eine mobile Einsatzküche, die an Kriegsschauplätzen zum Einsatz kam, sowie der streng vertrauliche Bericht zur Versorgung der Obdachlosen nach Fliegerangriffen.
Kopenhagen: Ein Vorzeigebeispiel
In Dänemark wurden die Zürcher Besucher freundlich empfangen. In Kopenhagen wurden unter anderem die städtische Volksküche, Altersheime und die «Stadt der Alten» (eine riesige Siedlung mit Alterswohnungen) sowie die Schülerspeisung besucht.
Über die Kopenhagener Volksküche schrieb das Zürcher Team:
„Während des letzten Weltkrieges herrschten in den Jahren 1917–1919 in Kopenhagen ähnliche Verhältnisse wie gegenwärtig. Die Gasrationierung war damals sehr empfindlich, wozu sich ausserdem, wie heute, ein stark fühlbarer Warenmangel und eine sehr grosse Preissteigerung gesellten. Infolge dieser Verhältnisse wurde im Jahre 1917 die Volksküche eröffnet. (…) Die Volksküche hat sich seit jener Zeit behauptet und ist zur unentbehrlichen Institution der minderbemittelten Bevölkerung geworden.“
(Spezialbericht 1, S. 1)
Für eine fundierte Berichterstattung studierten die Schweizer Gäste Dienstpläne, Personalakten, Kostenvergleiche, sogar das lokale Anstellungsreglement, das in voller Länge dokumentiert wurde. Besonders ausführlich wird das System der Ausbildung geschildert: So wurden bspw. junge Frauen in einer eigenen Haushaltungsschule nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch auf ihre Aufgaben vorbereitet. Wer Schwierigkeiten hatte, wurde nicht entlassen, sondern nochmals geschult.
An vielen Stellen stellt man fest, dass die Dänen definitiv ihrer Zeit voraus waren, wenn man bspw. die Systematik des Bestellvorgangs in der Stadtküche nachliest, der auch heute noch, wenn auch in adaptierter Form, etabliert ist:
«Die Kostgänger lösen zuerst die Marken für die gewünschten Speisen und geben gleichzeitig ihre Rationierungsmarken ab. Hierauf setzen sie sich an einen freien Tisch und warten bis ihre Nummer (die identisch ist mit der Nummer der gelösten Marken) an der Lichttafel beim Speisenausgabe-Schalter erscheint, um dort die Speisen in Empfang zu nehmen.»
Ebenso dachte man bereits damals über eine würdevolle Betreuung von pflegebedürftigen Altersrentnern nach und baute landesweit Altersheime. Dazu kam, dass man in Kopenhagen schon damals unzählige Alterswohnungen baute, um kostengünstigen Wohnraum für Pensionierte zu schaffen. Dänemark galt somit im sozialen Städtebau als Vorreiterin für viele europäische Staaten. Spezial Bericht 4 Altersfuersorge Daenemark
Beim Lesen der Berichte staunt man über die vielen erwähnten Details, obwohl das Meiste im Nachhinein aus dem Gedächtnis wiedergegeben worden ist. Und: Die Verantwortlichen der damaligen Volksküche Zürich dachten strategisch, systematisch und wollten genau wissen, wie andere Städte soziale Verantwortung im Bereich der Ernährung organisieren.
Ein Dank ans Archiv und an unsere Geschichte
Der Reisebericht endet nicht mit einem Fazit. Aber wir wissen aus dem Auftrag, dass die Städtische Volksküche nicht einfach nur verwalten wollte, sondern sie wollte sich kontinuierlich verbessern. Die gesammelten Eindrücke sollten dem Zürcher System neue Impulse geben in der Organisation, der Ausbildung und vielleicht auch in der Haltung gewissen Dingen gegenüber. Selbst in Zeiten äusserster Unsicherheit war Reflexionsfähigkeit vorhanden, was als bemerkenswert taxiert werden kann.
Heute, über 80 Jahre danach, erinnern uns diese Berichte daran, dass eine gute Arbeitgeberin mehr braucht als einen rein betriebswirtschaftlichen Auftrag. Sie braucht eine Vision, viel Wille zur Reflexion und zur stetigen Verbesserung. Diese Haltung ist Teil unserer Geschichte und begleitet uns auch weiterhin.
Die Originalberichte wurden inzwischen dem Stadtarchiv Zürich übergeben. Für uns war dieser Fund mehr als eine Anekdote, er war eine Erinnerung daran, wie weit die Wurzeln unserer Unternehmung zurückreichen. Und wie sehr das Thema Verantwortung für Ernährung schon unsere Vorgänger geprägt hat.
Sehr lesenswert ist der
Streng vertrauliche Berichte:
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